Masern als Ursache einer Immunamnesie (Auslöschung des Abwehrgedächtnisses) – die Impfung schützt davor!

Kinder sollen besser vor Masern geschützt werden – daher ist zum 1. März 2020 das Masernschutzgesetz in Kraft getreten.1 Warum das auch zur Prävention anderer Infektionskrankheiten beitragen könnte? Weil die Masern-Infektion eine sogenannte „Immunamnesie“ (Auslöschung des Immungedächtnisses) auslösen kann.2

(Lesen Sie diesen Beitrag und weitere Informationen zu den Impfungen auf unserer Homepage in der Rubrik „A-Z“ Impfungen)

Masern sind keine „harmlose Kinder-Krankheit”, sondern zählen zu den ansteckendsten impfpräventablen Infektionskrankheiten überhaupt.1 Trotzdem wird die Aufrechterhaltung der Herdenimmunität mit Blick auf die zunehmende Zahl an Impfgegner:innen und -verweigernden immer schwieriger.2 Weil weniger geimpft wird, steigt die Zahl der Masern-Fälle.3 Viele Kinder sind außerdem u. a. aufgrund pandemiebedingter Unterbrechungen und zunehmender Ungleichheit, bezogen auf den Zugang zu Impfstoffen, ohne Schutz vor Masern und anderen impfpräventablen Erkrankungen. So nahm in den ersten beiden Monaten des Jahres 2022 die Masern-Fallzahl weltweit um 79 % gegenüber dem Vergleichszeitraum aus 2021 zu.4 In Deutschland zeigt sich stattdessen ein gegenläufiger Trend: Während 2019 noch 515 Masern-Erkrankungen übermittelt wurden, waren es 2020 nur 76 Fälle.5 Im Jahr 2021 fiel die Zahl sogar auf nur 10 Masernfälle.6 Da spielt die Einführung des Masernschutzgesetztes 2020 eine wichtige Rolle, da einige Impfgegner sich von der Pflicht zur Masernimpfung vor Aufnahme ihres Kindes in einer Gemeinschaftseinrichtung angesichts der gesetzlich eingeführten Sanktionen „überzeugen“ ließen. Zusätzlich wird vermutet, dass dieser beeindruckende Rückgang der Fallzahlen in Deutschland auf die eingeführten Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie zurückzuführen ist.5

Wussten Sie schon?
Impfungen gegen Masern-Mumps-Röteln sind wichtige Einflussfaktoren, wenn es darum geht, die Krankheitslast und die Sterblichkeit von Kindern zu senken.2 Das Beispiel Masern-Impfung macht dies deutlich: Vor Einführung der Masern-Impfung im Jahr 1963 starben jährlich weltweit etwa 2,6 Millionen Menschen an den Masern. Allein zwischen 2000 und 2018 konnten der WHO zufolge durch die Masern-Impfung schätzungsweise weltweit mehr als 23,2 Millionen Menschenleben gerettet werden: In diesem Zeitraum sank die Zahl der Masern-bedingten Todesfälle um 73 %.7

Die Immunsuppression (Unterdrückung des Immunsystems) nach Maserninfektion kann Jahre andauern

Masern-Infektionen führen zu einer starken Aktivierung des Immunsystems und einer lebenslangen Immunität gegen das Masernvirus. Paradoxerweise bewirkt die Infektion gleichzeitig eine starke Unterdrückung (Suppression) des Immunsystems,2 denn das Masernvirus infiziert Immunzellen,3 wie B- und T-Lymphozyten, dendritische Zellen oder Makrophagen sowie hämatopoetische Stammzellen, die den CD150-Rezeptor exprimieren.2 Die infizierten Zellen werden abgebaut. Bereits kurz nach der Infektion sind u. a. eine Lymphopenie (niedrige Anzahl von Lymphozyten=Abwehrzellen), die Suppression der Lymphozyten-Proliferation und eine verminderte Interferon-vermittelte Signalweiterleitung zu beobachten.3

Aufgrund der Immunsuppression kann es zu sekundären Infektionen kommen. Diese gelten als Grund für die meisten Masern-bedingten Todesfälle und klinischen Komplikationen. Die Zahl der zirkulierenden Lymphozyten erholt sich zwar nach etwa 4 Wochen, allerdings kann die Immunsuppression noch Monate oder Jahre andauern. Die Folge sind erhöhte Inzidenzen sekundärer Infektionen und ein Anstieg der Kindermortalität (Kindersterblichkeit).2

Die Nachweispflicht der Immunität gegen Masern für besondere Personengruppen ist ein zentraler Aspekt im Masernschutzgesetz. Eine Zusammenfassung + Vordruck für die Impfbescheinigung finden Sie hier.

Masern-bedingte Immunamnesie erstmals gezeigt

Als biologische Erklärung für die erhöhte Mortalität und Zahl an sekundären Infektionen – auch Jahre nach einer Masern-Infektion – wird die sogenannte „Masern-bedingte Immunamnesie“ angesehen.2 Petrova et al.* und Mina et al.** lieferten 2019 erstmals Belege hierfür:

  • Aufgrund der Masern-Infektion verringerte sich die Diversität von naiven B-Zellen und B-Gedächtniszellen. Die immunologischen Veränderungen blieben auch nach dem Abklingen der klinischen Erkrankung bestehen und beeinträchtigten die durch frühere Erkrankungen und Impfungen erworbene Immunität.2,*
  • Ungeimpfte Kinder verloren infolge einer Masern-Infektion bis zu 73 % ihres Antikörper-Repertoires. Nach der Impfung gegen Masern-Mumps-Röteln (MMR) wurde hingegen kein derartiger Effekt beobachtet.3,**

Aufgrund der möglichen Auswirkungen auf das Immunsystem ist die Masern-Impfung aus Sicht der Studienautor:innen nicht nur wichtig für die Kontrolle der Masern, sondern auch für die Aufrechterhaltung der Herdenimmunität gegenüber anderen Pathogenen (Krankheitserregern), die nach einer Masern-Infektion gefährdet sein kann.2 

Sofern es zu einer Masern-Infektion gekommen ist, kann möglichweise eine erneute Vakzinierung mit den Standardimpfstoffen für Kinder dazu beitragen, die Dauer der Immunamnesie und die daraus resultierende Anfälligkeit gegenüber anderen Infektionen abzumildern.3

Impfung gegen Masern wichtig zur Aufrechterhaltung der Herdenimmunität

Aufgrund der möglichen Auswirkungen auf das Immunsystem ist die Masern-Impfung aus Sicht der Studienautoren nicht nur wichtig für die Kontrolle der Masern, sondern auch für die Aufrechterhaltung der Herdenimmunität gegenüber anderen Pathogenen, die nach einer Masern-Infektion gefährdet sein kann.2 

Die sogenannte Herdenimmunität (die Kinder einer Einrichtung=“Herde“ sind geimpft) schützt vor allem die Kinder, welche aufgrund einer seltenen (immunologischen) Erkrankung nicht gegen Masern geimpft werden dürfen. Diese profitieren davon, dass die anderen Kinder in der Einrichtung vollständig geimpft sind und dadurch bestimmte ansteckende Erkrankungen nicht auftreten und damit auch nicht weitergeben werden können.

Sofern es zu einer Masern-Infektion gekommen ist, kann möglichweise eine erneute Impfung mit den Standardimpfstoffen für Kinder dazu beitragen, die Dauer der Immunamnesie und die daraus resultierende Anfälligkeit gegenüber anderen Infektionen abzumildern.3Unser Fazit für Sie
Die meisten Masern-assoziierten Komplikationen und Todesfälle werden durch sekundäre Infektionen herbeigeführt. Eine biologische Erklärung hierfür bietet die Masern-bedingte Immunamnesie.2 Bei ungeimpften Kindern können Masern-Infektionen die Zahl an naiven B-Zellen und B-Gedächtniszellen reduzieren2 und zum Verlust von bis zu 73 % des Antikörper-Repertoires führen.3 Das geschwächte humorale Immunsystem kann zu einer größeren Anfälligkeit für Infektionen führen. Dies unterstreicht die Notwendigkeit einer flächendeckenden Masern-Impfung.3

Details zu den wissenschaftlichen Studien

*Studiendesign Petrova et al. 2019
Im Rahmen der Studie wurden die immunologischen Grundlagen der Masern-assoziierten Immunsuppression untersucht. Hierfür wurden die genetischen Veränderungen in den naiven B-Zellen und den B-Gedächtniszellen von 26 ungeimpften Kindern nach einer Masern-Infektion analysiert. Die Studienteilnehmer:innen stammten von 3 orthodox-protestantischen Schulen in den Niederlanden mit einer Impfquote von < 20 %. In die Masern-Studienkohorte wurden ungeimpfte Kinder im Alter von 4 – 17 Jahren ohne Masernerkrankungen in der Vorgeschichte eingeschlossen. Es gab 2 Kontrollgruppen: (i) ungeimpfte Kinder aus der gleichen Gemeinschaft, die im Studienzeitraum keine Masern entwickelten und nicht serokonvertierten (n = 3); (ii) Erwachsene, die mit einem trivalenten inaktivierten Influenza-Impfstoff geimpft waren und denen in vergleichbaren Intervallen Proben entnommen wurden.2

**Studiendesign Mina et al. 2019
Ziel dieser Studie war es zu prüfen, ob eine Masern-induzierte Immunamnesie existiert. Um die Langzeiteffekte von Masern auf das Immunsystem zu untersuchen, wurde ein Antikörper-Assay (VirScan) verwendet. Damit wurden tausende pathogen-spezifische Antikörper im Blut von 77 ungeimpften niederländischen Kindern vor und 2 Monate nach einer Masern-Infektion analysiert. Als Kontrollen dienten die Proben von 5 ungeimpften Kindern ohne Masern.3

Quellen

  1. Bundesministerium für Gesundheit (BMG). Impfpflicht soll Kinder vor Masern schützen. Stand: 2021. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/impfpflicht.html [eingesehen am 20.07.2022].
  2. Petrova VN at al. Incomplete genetic reconstitution of B cell pools contributes to prolonged immunosuppression after measles. Sci Immunol. 2019;4(41). pii: eaay6125.
  3. Mina MJ et al. Measles virus infection diminishes preexisting antibodies that offer protection from other pathogens. Science. 2019;366(6465):599-606.
  4. World Health Organization (WHO). UNICEF and WHO warn of ‘perfect storm’ of conditions for measles outbreaks, affecting children. Stand: 2022. https://www.who.int/news/item/27-04-2022-unicef-and-who-warn-of–perfect-storm–of-conditions-for-measles-outbreaks–affecting-children [eingesehen am 20.07.2022].
  5. Robert Koch-Institut (RKI). Infektionsepidemiologisches Jahrbuch meldepflichtiger Krankheiten für 2020. Stand: 2021.
  6. Robert Koch-Institut (RKI). Epidemiologische Situation der Masern und Röteln in Deutschland 2021. Stand: 2022. https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Impfen/Praevention/elimination_04_01.html [eingesehen am 20.07.2022].
  7. World Health Organization (WHO). Fact Sheet Measles. Stand: 2019. https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/measles [eingesehen am 20.07.2022].
  8. Robert Koch-Institut (RKI). Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) beim Robert Koch-Institut 2022. Epid Bull 2022;4:3-66.

Quelle: 

Fachgruppennewsletter Kinder- und Jugendärzte das Ärztenachrichtendienstes (online) vom 08.06.2023; Ergänzungen erfolgten durch Dr. T. Kauth für eine bessere Verständlichkeit.
Ludwigsburg, 08.06.2023

8.1.2024 Quelle: www.kinderaerzte-im-netz.de

US-Forscherteam beschreibt, wie sich das Masernvirus im menschlichen Gehirn ausbreitet

Wissenschaftler*innen der Mayo Clinic beobachteten, wie das Masernvirus mutierte und sich im Gehirn einer Person ausbreitete, die einer seltenen, tödlichen Gehirnkrankheit erlag: subakute sklerosierende Panenzephalitis(SSPE).
Mit den neuesten Werkzeugen der genetischen Sequenzierung rekonstruierten Forscher*innen der Mayo Clinic, wie das Masernvirus ein menschliches Gehirn befiel. Das Virus erwarb demnach verschiedene Mutationen, die die Ausbreitung des Virus vom frontalen Kortex nach außen begünstigten.

Die subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) ist eine chronische Maserngehirnentzündung, die als unheilbar gilt. Die Masernviren dringen in das Gehirn ein, vermehren sich dort und schädigen Nervenzellen. Die SSPE verläuft in Schüben. Säuglinge, die sich im ersten Lebensjahr mit Masern anstecken, sind besonders gefährdet, nach Jahren daran zu erkranken.
„Unsere Studie liefert überzeugende Daten, die zeigen, wie virale RNA mutierte und sich in einem menschlichen Organ ausbreitete – in diesem Fall im Gehirn“, erklärte Roberto Cattaneo, Ph.D., ein Virologe der Mayo Clinic und Co-Hauptautor einer neuen Studie, die in PLOS Pathogens veröffentlicht wurde. „Unsere Entdeckungen werden dazu beitragen […] zu verstehen, wie andere Viren im menschlichen Gehirn überleben und sich dort anpassen und Krankheiten verursachen. Dieses Wissen könnte die Entwicklung wirksamer antiviraler Medikamente erleichtern.“

Impfmüdigkeit begünstigt Masernausbrüche

Masern gehören zu den ansteckendsten Krankheiten. Das Masernvirus infiziert die oberen Atemwege. Über diese breitet sich das Virus durch Tröpfchen aus, die beim Husten oder Niesen einer infizierten Person verteilt werden.
Dr. Cattaneo leistete Pionierarbeit bei der Erforschung der Ausbreitung des Masernvirus im Körper.

Er begann vor etwa 40 Jahren mit der Erforschung des Masernvirus und war fasziniert von der seltenen, tödlichen Gehirnerkrankung namens subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE), die bei etwa 1 von 10.000 Masernfällen auftritt. Es können etwa fünf bis zehn Jahre nach der Erstinfektion vergehen, bis das Masernvirus mutiert und sich im Gehirn ausbreitet. Zu den Symptomen dieser fortschreitenden neurologischen Erkrankung gehören Gedächtnisverlust, Krampfanfälle und Immobilität. Dr. Cattaneo untersuchte SSPE mehrere Jahre lang, bis die tödliche Krankheit fast verschwand, da immer mehr Menschen gegen Masern geimpft wurden.

Aufgrund von Impfmüdigkeit und versäumten Impfungen kommt es jedoch nun erneut zu Masernausbrüchen. Während der COVID-19-Pandemie haben Millionen von Kindern ihre Masernimpfungen verpasst, was laut einer aktuellen Studie des Centers for Disease Control and Prevention (CDC) zu einem geschätzten Anstieg der Masernfälle um 18% und einem Anstieg der Todesfälle durch Masern um 43% im Jahr 2022 im Vergleich zu 2021 weltweit geführt hat.
„Wir vermuten, dass auch SSPE-Fälle wieder zunehmen werden. Das ist traurig, weil diese schreckliche Krankheit durch Impfung verhindert werden kann. Aber jetzt sind wir in der Lage, SSPE mit moderner genetischer Sequenzierungstechnologie zu untersuchen und mehr darüber zu erfahren“, so Iris Yousaf, Co-Hauptautor der Studie und Doktorandin im fünften Jahr.

Die Zusammenarbeit mit den CDC ermöglichte Dr. Cattaneo und Yousaf, einen SSPE-Fall zu untersuchen. Sie analysierten das Gehirn einer Person, die als Kind an Masern erkrankt war und Jahre später als Erwachsener an SSPE entwickelt hatte. Sie nahmen 15 Proben aus verschiedenen Regionen des Gehirns unter die Lupe und führten in jeder Region eine genetische Sequenzierung durch, um herauszufinden, wie das Masernvirus mutierte und sich verbreitete.

Die Forscher*innen fanden heraus, dass sich nach dem Eindringen des Masernvirus in das Gehirn dessen Genom – der vollständige Satz genetischen Materials des Virus – zu verändern begann. Es bildeten sich Merkmale aus, die die Ausbreitung des Virus vom ursprünglichen Ort der Infektion – dem frontalen Kortex des Gehirns – bis hin zur Besiedlung des gesamten Organs förderten.

Quellen: Mayo ClinicPLOS Pathogens